Einleitung

 

 

Das Gelingen einer Psychotherapie hängt ab von der Handhabung des therapeutischen Prozesses. Einen therapeutischen Prozeß ingang zu setzen und aufrecht zu erhalten ist das wichtigste. Auf ihn bezieht sich alles. Daher möchte ich eine erste Skizze des Prozesses an den Anfang stellen. Diese wird im Buch immer weiter ausgeführt als tiefenpsychologisch gegründetes Vorgehen beschrieben.

 

Es gilt zu verstehen und sich einzufühlen. Wir stellen uns als Resonanzboden zur Verfügung, fühlen mit und denken mit. Wir suchen nach Lösungen und Gelöstheit. Der Patient soll besser als bislang Kontakt finden zu seinen Quellen, zu seiner Lebendigkeit. Im Zusammenhang mit auslösenden Situationen ist es zur Entstehung oder Intensivierung von Symptomen gekommen. Nach mehr oder weniger langen Umwegen kommt er zu uns. Jeder Patient kommt ambivalent, der eine mehr, der andere weniger. Er ahnt zumindest, daß sich etwas grundlegender ändern sollte, was ihm bisher vertraut war und ihm leidlich Sicherheit gegeben hat. Er will jedoch mindestens seine Symptome loswerden und hat gleichzeitig Angst davor, sich zu verändern.

 

In jeder Psychotherapie muß umgelernt werden. Alte Wege der Bewältigung reichen heute nicht mehr, so wichtig sie auch einmal waren, mit früherer Not zurecht zu kommen. Heute führen alte und eingeübte Erlebens- und Reaktionsmuster, alte Gewohnheitsstrukturen, zu inneren Spannungen.

 

Das besondere bei tiefenpsychologisch ausgerichtetem Arbeiten ist die Beachtung unbewußter Prozesse. Schmerzliche Gefühle und alte unzureichend bewältigte Unruheherde werden durch eine Reihe von Maßnahmen vom Erleben fern gehalten. Diese werden allgemein als Abwehr bezeichnet. Grund für die Abwehr sind höchst unangenehme Gefühle und Regungen. Diese sind jedoch nicht weg, wenn man sie verdrängt, verleugnet oder überspielt. Sie sind vielmehr weiterhin da, latent vorhanden und rumoren im Untergrund. Sie gehören zu lebendigen, natürlichen Strebungen, die in der Familie nicht leben konnten und unterdrückt werden mußten. Dieses Untergründige, Verborgene, schwer Zugängliche nennen wir Latenz. Latentes sucht trotz allem weiterhin nach Leben, will erlebt und berücksichtigt werden.

 

Wir alle kennen die Neigung, unangenehme Gefühle wegzuschieben, die zB. mit Konflikten verbunden sind. Bei unseren Patienten ist das Gleichgewicht zwischen lebendigen und steuernden Kräften gravierend verschoben. Patienten steuern nicht, sondern werden mehr gesteuert von der Abwehr. Je mehr diese dominiert, desto mehr ist lebendiges Erleben eingeschränkt. Auch die Abwehr ist großenteils unbewußt. Der Patient kann sie ohne Unterstützung kaum fassen und verändern. Starke Kräfte sind hier heimlich am Werk und verzehren Lebensenergie und Lebensfreude. Die Ganzheit des Erlebens hat sich nicht richtig entwickelt, ist verloren gegangen, kann sich nicht oder nicht zuverlässig genug entfalten.

 

Gelingt der therapeutische Prozeß, läßt sich die unbewußte Abwehr soweit bearbeiten, daß das Erleben wesentlich vollständiger wird. Das durch Abwehr vom Erleben Abgedrängte wird freier zugänglich, reichert sich an, gesinnt an Kraft. Latentes kann manifest werden, kann ins Erleben kommen. Der Patient kann besser im Strom des Lebens schwimmen, statt ratlos und mutlos abseits und neben sich her zu leben und zwanghaft unbewußt in seine Abwehr zu investieren.

 

Nehmen wir KH, meinen Musterpatienten. Vor drei Monaten hat er im Lotto gewonnen. Doch statt sich zu freuen und farbige, lustvolle Phantasien zu entwickeln, wird er depressiv, hat Gastritis entwickelt und ist impotent geworden. Er kann ua. nicht zugreifen, nicht loslegen. Das Orale, das Haben-Wollen ist abgewehrt, weitgehend unbewußt, in die Latenz geschickt, gehemmt. Da spürt er folglich viel zu wenig. Seine Vitalität liegt darnieder. Auch seine neurotische Bescheidenheitshaltung schützt davor, Wünsche zu erleben und sich mehr vom Lebenskuchen zu holen. Er sieht sich als bescheidenen Menschen, und dies nicht ohne Stolz. Er ist insgesamt ziemlich ratlos. Aber er wundert sich immerhin: eigentlich müßte es ihm doch gut gehen nach so einem Gewinn…

 

Der tiefenpsychologische Ansatz ist ganzheitlich ausgerichtet. Es geht um das Ganze eines Menschen, die Vollständigkeit seines Erlebens.

 

Therapeut und Patient verschaffen sich erst einmal einen Überblick, eine Anamnese wird erhoben. Sie verständigen sich darüber, worum es in der Therapie gehen soll, schließen ein sog. Arbeitsbündnis. Es sollte klar sein, daß es um die Suche nach Lebendigkeit geht, die durch ungute, aus der Vergangenheit stammende (Abwehr-)gewohnheiten beeinträchtigt ist: wir suchen nach dem Lebendigen und den Hindernissen.

 

Dieses Bündnis einzuhalten ist nicht immer einfach. Die Abwehr wehrt sich. Die bewährten bzw. gewohnten Alt-Lösungen werden geschützt, solange noch nichts Besseres verfügbar ist, um mit Angst und negativen Gefühlen umzugehen. Widerstände gegen den Prozeß werden aktiviert. Der Therapeut bleibt wohlwollender Begleiter, sucht mit dem Patienten beharrlich nach Lösungen aus seinen Gefangenheiten, nach Wegen zu mehr Lebendigkeit, Klarheit und Wahlfreiheit.

 

Eigentherapie steht am Ende jeder Psychotherapie. Abschied muß sein, aber er darf auch sein. Ich gehe meinen Weg, auch wenn ich traurig bin. Ich nehme das Geschehen aus der Therapie innerlich mit: den Therapeuten, den Austausch, die Stimmungen, gute und auch schwierige. Doch Schwieriges hat sich anders als früher als lösbar erwiesen. Ich konnte erleben, daß ich einiges auch auf den Therapeuten übertragen habe. Ich habe die alten Leiden in meiner Kindheit ein Stück weit erlebt und dabei erfahren, daß ich heute in einer anderen Situation bin, mehr aushalten und bewirken kann. Ich wurde -endlich- besser verstanden und verstehe mich jetzt selbst besser. Ich bin zuversichtlicher, erinnere mich an den Therapeuten und seine beharrliche Lösungszuversicht und Lösungssuche. Ich kann mich jetzt leichter lösen aus Verhaftungen und Spannungen, bleibe innerlich verbunden mit der Therapie und dem Therapeuten, gehe meinen Weg.

 

Auch wenn die Symptome kaum noch vorhanden sind, Schatten der Neurose bleiben. Mit gelegentlichen Rückfällen in alte Muster muß ich rechnen, sogar mit Anflügen von Symptomen. Diese sollte ich verstehen als Warnzeichen, auch Wahr-Zeichen: halt ein, etwas Wahres Wichtiges kommt zu kurz, fühl´ nach, denk nach. Erinnere Dich an die Therapie. Damals ging es. Womit hängt der Einbruch jetzt zusammen? Was wäre hilfreich? Was will ins Leben und welche Gegenkräfte melden sich, was ist der Konflikt? Bin ich denn nie fertig? Die Antwort ist: Nein. Auch gut. Nein, sehr gut sogar. Ich kann nur weitergehen und offen sein. Ich habe erfahren, wie gut es tut, lebendig zu sein, habe einige Quellen meiner Lebendigkeit kennen gelernt. Damit will ich weiter in Kontakt bleiben. Die Mühe lohnt, weil Lebendigkeit gut tut und die alten Gefahren vorbei sind. Mal sehen, was noch kommt...